Description
(Extract)
"Einleitung
Vergangenheit lebt. Die Konstruktionsformen von Vergangenem sind Teil langjähriger Erfahrungen und gegenwärtiger Handlungen, von Werturteilen, Identitätsbildungsprozessen und individuellen, kollektiven, politischen Legitimierungsversuchen. Mit Erinnerungskultur wird dabei die beobachtbare Seite des kollektiven Gedächtnisspeichers bezeichnet; sie stellt seine historisch und kulturell variablen Ausprägungen dar. Die sichtbaren Formen der Erinnerungspflege werden aus einem Gedächtnisbecken gespeist, das sich aus symbolträchtigen kulturellen Objektivationen und aus im Alltag sich herausbildenden Erinnerungen zusammensetzt. Die Erinnerungskultur ist auf einer mind-map zu verorten, in deren Zentrum das Gedächtnis steht, das kollektive Gedächtnis, so wie es auch von Aleida und Jan Assmann theoretisch fundiert wurde.
Auf der bunten Karte Südosteuropas gehen die Vorstellungen über die Vergangenheit auf verschiedenste Quellen zurück, auf regionale und nationale Meistererzählungen über Geschichte, auf schriftlich und mündlich überlieferte Geschichten, auf den Mythos als einem besonderen Vergangenheitsregister. Sie alle konnten einen erfolgreichen Weg ins kollektive Gedächtnis finden und artikulieren sich unterschiedlich. Erinnerungskultur gibt es daher nur in der Mehrzahl.
Mit seinen hier versammelten Beiträgen kann dieser Band nicht den Anspruch erheben, die Erinnerungskulturen Südosteuropas erschöpfend darzustellen. Dieses Unterfangen wäre schlicht und einfach unmöglich. Hier werden Ausschnitte gezeigt und - auch aufgrund des dem Band zugrunde liegenden Symposiums - der Blick in erster Linie auf Rumänien gerichtet. Gerade wegen dieser Schwerpunktsetzung kommt den anderen Beiträgen eine besondere Rolle zu: Sie zeigen die Vielfalt kommunikativer Knotenpunkte verschiedener Räume, umreißen Problemfelder, verweisen auf Diskussionen, die im Gange sind. Der Blick über Zäune hinweg deutet auf eine grundsätzliche Haltung hin: auf die verspürte Notwendigkeit, brennende Fragen, aufflammende Erinnerungen im Kontext anderer Fragestellungen und Erinnerungen zu sehen, das im Ausklang des 20. Jahrhunderts Überlieferte als nur einen Teil der südosteuropäischen Erfahrungen wahrzunehmen.
Mit einem breit gefächerten Angebot an kollektiven und subjektiven Erinnerungsbildern zelebrierte man nach 1989 in den südosteuropäischen Literaturen das Recht auf freies Schreiben. Bei allem bis dahin erlittenen Leid durch Schweigen und Verschweigen, nach Jahren akribischer Chiffrierung der Aussagen oder erzwungener Heimatferne der Exilliteraten dokumentierte man nach dem Zäsurjahr 1989 mit explosiver Kraft die Unbehaustheit im jahrzehntelangen gesellschaftlichen Experiment und die lange Chronik der Repression. Die zwanzig Jahre, die seit 1989 vergangen sind, veranlassen zu Bilanz und Diskussion über die südosteuropäische Grenzen überschreitende Erfahrung von Totalitarismus und Kollektivismus.
Formen der Erinnerung in der Literatur, Selektionsmechanismen "sensibler" Vergangenheitsbilder, die Analyse des Abdrucks kollektiver Wahrnehmung auf der Ebene des subjektiven Erlebens und des einzelnen Textes, Identitätsangebote und Identitätsverschiebungen in den verschiedenen Regionen und Literaturen Südosteuropas gehören zu den Schwerpunkten der Untersuchungen. Die Thematisierung der "Zeit danach" impliziert zugleich den vergleichenden Blick auf die Literatur, die auf verschiedenen und heute nicht-unumstrittenen (Um)wegen der sogenannten "inneren Emigration" schreiten musste, sodass Texte in extrem kryptischer Verkleidung oder der Form nach vom System noch verträglicher Kritik entstanden. Gleichermaßen war auch die Berücksichtigung der in der Emigration entstandenen Literatur besonders ergiebig, die von den Erinnerungen an Diaspora-Erfahrung geprägt wurde, so dass durch all diese Gegenüberstellungen sprachliche Verformungen, Glanzleistungen, inhaltliche Einschränkungen oder Tabubrüche feststellbar wurden....