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Description
(Text)
Am Rande der Realität, wo Normalität in Wahnsinn umschlägt, wo Märchen und Mythen Wirklichkeit werden, wandeln jene 19 Erzählungen, die sich geradewegs in den Verstand des Lesers bohren. Jede Geschichte, auf ihre Weise einzigartig, entführt den Leser an die unterschiedlichsten Schauplätze, vom Paris des 19. Jahrhunderts bis ans Ende der Welt. Hexen, Mörder, Nixen und Dichter kreuzen einander ihren Weg. Der Alltag wird umgestülpt, der Blick hinter den Vorhang liefert die Erkenntnis, dass hinter der vertrauten Realität das Unfassbare lauert und nur ein geringer Anstoß nötig ist, um die Normalität zum Einsturz zu bringen.
Zum ersten Mal in deutscher Sprache bieten die aus dem Bulgarischen stammenden Kurzgeschichten von Todor Todorov ein buntes Potpourri aus bulgarischer Märchenwelt und verstörender Mystery à la David Lynch.
(Extract)
DANTES BART
' Dieser sah nicht mehr den letzten Tag,
Doch war er ihm nah, so vom Wahn verblendet,
Dass er ihm gewiss in kurzer Frist erlag.'
Dante, Purgatorio I, 1
Der Bart ist vor allem Geschichte, dachte Dante und holte mit dem Rasiermesser aus.
Er keimt wie eine Traube, gequellt von entsprungen aus der Vergangenheit, von der sich nur magere Vögel ernähren. Fest ins Gesicht gepresst, reift er langsam, wird schwer und wird geschnitten, bevor er Früchte trägt.
Dantes Geschichte begann nach seinem Treffen mit Abulafia. Dieser unruhige Jude, sachkundig im Unverständlichen, hatte ihm die Geheimnisse der Alchemie und der Kabbala enthüllt. Er hatte ihm beigebracht, wie er nach Nord und Süd träumen konnte und auch nach West und Ost und er hatte ihn ermahnt, dass in manchen Nächten, in eine bestimmte Richtung zu träumen, nicht ungefährlich war. Seine Erscheinung setzte der heimischen Gemütlichkeit ein Ende, inmitten derer Dante unzählige Nachmittage vor seinen lateinischen Bänden verbrachte, wenn draußen der Hahn auf Italienisch krähte. Sie verwandelten sich in Wanderer. Kuckucksvögel bauten Nester in ihren Bärten, solange sie die staubigen Wege kehrten.
Sie landeten in einer jener Städte, wo die Zungen hinter jeder Ecke sprachen. Sie erzählten ihnen von Blinden, die sich im Geheimen versammelt hätten, aber immer an ein und derselben Stelle und zu einer im Voraus vereinbarten Stunde, um über die Welt zu lästern und zu freveln. Wenn etwas Unheimliches oder einfach eine Unannehmlichkeit geschah, sagten die Leute: Es sind sicher die Blinden gewesen! Und wenn mit den Kindern etwas Schlimmes passierte, warnten die Mütter: Sicher sind die Blinden dort gewesen!
Diese Menschen trugen breitkrempige Hüte und verschiedene seltsame Verbände über ihren Augen an ihren Gesichtern, überhaupt verdeckten sie immer ihre Blindheit. Sie sagten, wenn jemand in das Weiße ihrer Augen blicke, verliere er seinen Verstand und ihm sei ein grausames Verhängnis vorbestimmt. Man nannte sie Malooculi - die bösartigen Augen. Man sagte auch, dass jeder einer von ihnen sein könne - vom Bettler auf der Straße bis zu dem alten, eines Nachts vor Entsetzen erblindeten Bischof. Aber das waren nicht einfach Blinde. Sie wollten nicht sehen. Die Welt schmerzte sie wie ein lästiges Geschwür und sie spuckten auf sie in ihren Träumen und in ihrer endlosen Blindheit.
Die zwei bärtigen Männer spuckten auch und gingen ihren Weg weiter.
Dann sah Dante die Katzen. Ganze Katzenarmeen durchquerten die Städte an der Adria.



